Corona und die neue Sachlichkeit im Handel

Seit rund einem Jahr befinden wir uns in dieser Pandemie-Situation. Wir alle sind ausnahmslos davon betroffen und man könnte sagen, wir sitzen alle im selben Boot. Doch irgendwie wirkt es nicht so, denn wir gehen alle unterschiedlich damit um. Jedes Individuum und jedes Unternehmen hat eigene Sichtweisen und Methoden entwickelt, um diese anhaltende Ausnahmesituation zu bewältigen. Dabei treten Reaktionen und Verhaltensweisen zu Tage, die ein sehr breites Spektrum abbilden: Von Passivität und Starrköpfigkeit über Einfallsreichtum und Pragmatismus bis hin zu Verzweiflung und blindem Aktionismus. Diese Bandbreite gilt auch für die Akteure im Handel, deren Gemütslage weit über die eigenen Branchengrenzen thematisiert wird.

Gemengelage aus Online-Einkauf, stationärem Shopping und Innenstadt

Es wurde schon viel darüber gesprochen, dass Corona wie ein Brennglas wirkt, das bereits vorhandene Schwächen und Mängel überdeutlich sichtbar macht und das Feuer in diesen Bereichen gnadenlos entfacht. Im Handel sind das die Verlagerung des Kundenverhaltens von stationärem Shoppingerlebnis zu Online-Einkäufen und die einhergehende Verödung von Innenstädten. Zu hohe Mieten, zu große Ähnlichkeit der Fußgängerzonen (Stichwort Franchises und Filialistenware), zu begrenztes Sortiment, zu hohe Parkgebühren und letztendlich zu wenige attraktive Argumente, eine wirklich gute Zeit in der Innenstadt zu haben.

Das alles wird jetzt noch sichtbarer und die Pandemie scheint eine Möglichkeit zu bieten, Dinge infrage zu stellen, Gegenwart und Zukunft besser einzuschätzen und sich zu besinnen. Zu reflektieren und in sich zu gehen ist in den letzten Monaten ein weit verbreiteter Ratschlag für Individuen gewesen, um besser mit der Situation umgehen zu können und sich konkret Gedanken zu machen, wie man in Zukunft sein Leben gestalten will. Bezieht man das In-sich-gehen auf eine Gruppe oder gar einen ganzen Wirtschaftszweig, dann bieten sich dem Handel und jedem einzelnen Händler einige Punkte, bei denen man einhaken kann.

„Wir sind kein Pandemietreiber“ ist kein Alleinstellungsmerkmal

Ob Fitnessstudios, die Gastronomie oder der stationäre Einzelhandel – jeder nimmt für sich in Anspruch, kein Treiber der Pandemie zu sein. Und natürlich gehört es zum Selbstverständnis einer Unternehmensexistenz, dass die Ladentüren offen sind und Kunden kommen können, auch mit Einschränkungen und in geringerer Zahl. In der Regel sind stationäre Geschäfte tendenziell darauf ausgerichtet, jeden Besucher zum Verweilen zu animieren, zum Umschauen, Anschauen und Anfassen. Wenn die Läden aber wieder aufmachen werden, dann gilt es verstärkt alles dafür zu tun, die Aufenthaltszeit kurz zu halten. Denn ein solches Verhalten entspricht mittlerweile eher einer pandemiebedingten Erwartungshaltung der Konsumenten. Schnell in den Supermarkt für die Lebensmittel, rasch Click & Collect im Baumarkt und zweckgebundenes Shoppen im Internet. Ob mit oder ohne Corona, der Kunde unterscheidet nicht nach Kanälen, sondern nach seinen Bedürfnissen. Für ihn gibt es nur den einen Handel und nicht die starre Einteilung in online und stationär. Somit stellt sich aber die Frage, was denn die Kunden wollen, wenn die Geschäfte wieder öffnen; und zwar die Mehrheit der Kunden. Es ist zu bezweifeln, dass Menschen jetzt Lustkäufe tätigen und von Laden zu Laden flanieren werden.

Deshalb sollte sich jeder stationäre Händler noch viel stärker fragen: Warum soll jemand ausgerechnet zu mir kommen, was biete ich den Kunden, was sie sonst nirgends bekommen? Persönlichkeit, Beratung und Service sind dabei die klassischen Attribute. Aber was, wenn man das als Kunde nur im Laden erfahren kann? Jedoch sind Kunden nicht nur im Laden und selbst wenn Sie gern im Laden wären, auf ein nettes Gespräch und zum Gucken, was es Neues gibt, dann gehen sie manchmal trotzdem nicht hin, weil der Zeitaufwand in keinem Verhältnis zum Bedürfnis steht.

Digitalisierung als Geisteshaltung

An diesem Punkt zeigt sich dann, dass es sich bei der Digitalisierung des Handels nicht um eine Modernisierung handelt, nicht nur um ein Mit-der-Zeit-gehen. Vielmehr deckt Corona auf, dass Digitalisierung eine Geisteshaltung ist – und zwar eine inkludierende. Wer den Kunden als Ganzes begreift, versteht auch den Handel als Ganzes. In der Digitalisierung wird niemand ausgegrenzt und auch nicht gegeneinander ausgespielt. Als stationärer Händler wird man dabei in keiner Weise eingeschränkt, beschnitten oder benachteiligt. Viel mehr kann man seine Händlernatur auf vielfältige Weise ausleben und das eigene Business gestalten wie niemals zuvor. Solange man ein lokales Geschäft hat, hat man auch den Kundenzugang und den persönlichen Umgang mit ihnen. Darüber hinaus lassen sich Umsätze auch ohne eigene Kundendaten generieren, auf Online-Plattformen oder durch eine Händlerintegration mittels Ship-from-Store. Vieles ist möglich, nicht alles ist nötig. Aber ein Händlerdasein im Jahr 2021 lässt sich nicht ausschließlich analog und offline fristen. Persönlichkeit, Beratung und Service sollten eine Entsprechung im Digitalen haben – unterschiedlich ausgeprägt, aber vorhanden! All das stellt in der Gesamtheit dann einen Dienst am Kunden dar, der sich auszahlt.

Was in diesem Kontext gerne untergeht: auch die ganzen Onlineshops durchlaufen gerade einen Härtetest. Durch die gestiegene Anzahl an Neukunden und E-Commerce-Novizen entsteht eine neue Masse an Kunden, die innerhalb von wenigen Monaten eine Menge Erfahrungen sammeln beim Online-Einkauf. So werden auch dort Beratung, Service und Support verglichen, genau so wie die einzelnen Prozesse beim Bestellen und Bezahlen, ganz zu schweigen vom Lieferservice.

Ist Corona nun wirklich eine Art Brandbeschleuniger im Handel? In gewissem Sinne ja, denn die voraussichtlichen Entwicklungen der kommenden Jahre gehen nun sozusagen in Zeitraffer vonstatten, im Guten wie im Schlechten. Deshalb ist das, was gemeinhin von der Politik gefordert wird, auch hier angebracht und sollte von allen Akteuren erwartet und erfüllt werden – eine richtige Portion Pragmatismus.