Warum es nur einen Handel gibt und geben kann

Wer im Jahr 2021 davon spricht, dass hybrider Handel oder das Verschmelzen von Online und Stationär ein Trend ist, der durch die Pandemie beschleunigt wurde, hat die letzten zehn Jahre entweder in einer Blase gelebt oder ist einer gewissen Betriebsblindheit erlegen. Es gibt nur einen Handel – und der befindet sich immer dort, wo die Kunden sind. Egal wie sehr man als Branche in Schubladen denkt oder versucht, Stationär und Online gegeneinander auszuspielen. Der beschleunigte Trend besteht höchstens darin, dass der traditionelle stationäre Handel seine Scheuklappen immer mehr abnimmt und erkennt, was für großartige Möglichkeiten er in der heutigen Zeit tatsächlich hat.

Narzisstische Tendenzen

Die Pandemie, wenn man so will Corona, hat Eigenschaften des (rein stationären) Handels an die Oberfläche gebracht, die in den letzten zwanzig Jahren nicht unmittelbar sichtbar waren und geradezu narzisstisch anmuten: Eine Selbstverliebtheit, die sich darin äußert, dass man sich für wichtiger oder wertvoller hält, als andere einen selbst einschätzen. Das Verharren im aktuellen Moment, unfähig zu sein, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen oder eine Zukunftsvorstellung zu entwickeln, die nicht dem aktuellen Selbstbild entspricht. Anderen Regeln auferlegen zu können, wie mit einem umgegangen werden soll und welches Verhalten der anderen adäquat ist. Und letztendlich auch die permanente Zuweisung von Schuld und Verantwortung an andere, wenn die Dinge nicht zum eigenen Vorteil laufen und das eigene Selbstbild Gefahr läuft, weniger strahlend und glänzend zu sein.

So positioniert sich der stationäre Handel gerne als elementarer Bestandteil der Innenstädte und Fußgängerzonen. Man will verstanden wissen, kein Treiber der Pandemie zu sein; aber hat den Anspruch, Haupttreiber zu sein, wenn es darum geht, Menschen in die Stadt zu locken und lebendige Innenstädte überhaupt zu ermöglichen. Merkwürdigerweise haben die Menschen nicht aufgehört zu konsumieren oder einzukaufen während die stationären Läden geschlossen waren. Stattdessen haben sie sich um ihre Bedürfnisse gekümmert und diese mittels E-Commerce befriedigt. Und jetzt, wo immer mehr gelockert wird, stürmen die Menschen nicht die Geschäfte, sondern strömen in die Biergärten und nutzen alle Angebote der Außengastronomie. Statt die eigenen Handlungsfelder zu hinterfragen, wird die Stimme erhoben, um Onlinehandel mit einer Sondersteuer zu bestrafen, damit man den stationären Handel so subventionieren kann. Alles unter dem Deckmantel, ein Verwaisen der Innenstädte zu verhindern.

Gleichzeitig kommt eine Flut an wertvollen Ratschlägen, was man denn jetzt alles so tun könnte, um zukunftssicher aufgestellt zu sein. Diese Tipps reichen von digitalen Maßnahmen im Laden selbst bis zu allerlei Möglichkeiten, die das Internet bietet – das Neuland, in dem Milch und Honig fließen. Viele Dienstleister und Fachleute springen jetzt auf den Zug des hybriden Handels auf, obwohl es die entsprechenden Lösungen bereits schon viele Jahre gibt. Wir sorgen beispielsweise seit 2008 für die Integration stationärer Händler in den E-Commerce von Marken und Herstellern. Damals gab es noch nicht mal Instagram, während heute das Social Shopping immer weiter zunimmt und der Handel immer noch dazu neigt, sich in Online und Stationär trennen zu lassen.

Never complain, never explain

Der Handel besteht aus so vielen Akteuren – Marken, Herstellern, Händlern, Zwischenhändlern und Verbänden. Alle sehr aktiv und stets präsent, wenn es darum geht, das eigene Selbstbild zu beschreiben, zu bewundern oder zu verteidigen. Doch letztendlich sind es nicht sie, die bestimmen, die die Macht haben, diese liegt bei einem anderen, eher stillen Marktteilnehmer – dem Konsumenten. Konsumenten reden nicht viel, sind nicht laut, suchen keine Ausreden, stattdessen handeln sie einfach nur. Sie agieren aus egoistischen Motiven heraus, ohne groß Reden zu schwingen und handeln gemäß ihren subjektiven Bedürfnissen und Vorteilen. Fast nach dem Motto „Never complain, never explain“ kaufen sie was, wo und wie sie wollen. Und diesen Punkt scheint der E-Commerce in seiner Breite besser verstanden zu haben als der stationäre Handel.

Gib Deinem Kunden keinen Grund zur Klage, zur Beschwerde, denn wenn ihm was nicht passt, dann ist er weg und kommt nicht wieder. Er ist nicht darauf angewiesen, bei Dir einzukaufen. Im E-Commerce ist die Konkurrenz nur einen Click entfernt, man muss nicht in eine andere Straße gehen oder in eine andere Stadt fahren, wenn einem ein Geschäft nicht passt. Der Kunde von heute trinkt seinen Cappuccino im Café neben Deinem Laden, kauft aber ein in einem Onlineshop. Vielleicht sogar in Deinem, wenn Du einen hättest. Vielleicht sogar von Dir, wenn Du auf einem Internetmarktplatz wärst. Vielleicht sogar von Dir, wenn Du mittels Händlerintegration am E-Commerce teilhaben würdest. Womit wir beim eigentlichen Thema wären:

Was will der stationäre Handel eigentlich sein?

Will er die Menschen mit Gütern versorgen, sprich, sich nach den Bedürfnissen der Kunden richten? Dann gibt es keine Einteilung in stationär und online, sondern nur die Orientierung nach dem, was der Kunde will. Und der Kunde bewegt sich fließend zwischen online und stationär. Dementsprechend gibt es nur den EINEN Handel und der ist da, wo der Kunde ist.

Oder will der stationäre Handel ein wichtiger Faktor dabei sein, die Innenstadt lebendig zu halten und seinen Beitrag zu leisten zum gesellschaftlichen Zusammenleben? Dann wird das nicht funktionieren, indem man ein Sortiment anbietet, dass so Mainstream und dennoch aus der Zeit gefallen ist wie die ZDF Hitparade in den 90ern. Und es wird auch nicht funktionieren, wenn der Kern des eigenen Geschäftsmodells der Handel mit der Laufkundschaft ist.

Und hier sind wir wieder beim Selbstbild, das nicht dem entspricht, wie andere einen sehen. Der stationäre Handel will im Allgemeinen beides sein – Produktversorger und Bereitsteller eines beinah schon gesellschaftlich-kulturellen Angebots. Doch das schaffen die allerwenigsten. Die überwiegende Mehrheit wird sich entscheiden müssen, entweder eine Art Attraktion zu sein im Gewand eines Ladenlokals oder ein Händler durch und durch, der seine Kunden mit Waren versorgt, egal über welche Kanäle und Wege.

Zusammenwachsen von stationärem Handel und Onlinehandel

Ein Händler sollte sich im Jahr 2021 genauso wie seine Kunden fließend zwischen stationär und online bewegen. Manche beherrschen das schon sehr gut, während sich immer noch viel zu viele an einem Punkt befinden, der an Menschen erinnert, die ein Leben lang unsportlich waren und irgendwann damit anfangen, fit sein zu wollen und somit beginnen, Sport zu treiben. All die typischen Anfängerfehler und Verhaltensweisen, die man bei solchen Menschen sehen kann, lassen sich auch im rein stationären Handel beobachten:

  • Manche fangen einfach an, ohne Plan, ohne Ziel, ohne ihren Status quo überhaupt zu kennen. Die Unzufriedenheit und Demotivation setzt schnell ein, da man entweder zu wenig Wissen hat oder man sich früh eine Zerrung holt und das ganze Vorhaben fitter zu werden verflucht und ad acta legt.
  • Manche sind so motiviert, dass sie sich mit teurer Ausrüstung eindecken, deren Anschaffung die eigene Motivation noch mehr steigert. Aber auch dieser Typus bleibt nicht lange dran, weil die intrinsische Motivation fehlt. Letztendlich hat man viel Geld ausgegeben und findet sich doch voller Frust Kartoffelchips essend auf dem Sofa wieder (in den neuen Sportklamotten, inklusive Fitnesswatch).
  • Dann gibt es auch jene, die zwar einen hohen Grad an Konsistenz an den Tag legen, aber dennoch stets eine latente Unzufriedenheit in sich tragen. Was schlichtweg daran liegt, dass sie entweder zu viel zu schnell wollen oder sich für etwas entschieden haben, das nicht ganz zu ihnen passt. So stellen sich zwar dezente Erfolge ein, aber einen großen Durchbruch oder eine Art Aha-Erlebnis erfahren auch diese Menschen nicht.

Schließlich gibt es zum Glück aber auch jene, die reflektiert und ihrer individuellen Situation entsprechend agieren. Diesem Typus ist es klar, dass das Vorhaben fitter beziehungsweise digitaler zu werden einen bedeutungsvollen Wandel im Leben darstellt. Es ist nicht aus der Not geboren, sondern aus dem ureigenen Bedürfnis etwas anzupacken, was man viel zu lange vor sich hergeschoben hat. Und dass es deshalb auch nichts Vorübergehendes sein darf, sondern etwas Bleibendes werden muss. Ein solcher veränderungswilliger Geist achtet auf die folgenden Punkte:

  • Er ist sich bewusst, dass sich seine bisherige Alltagsstruktur ändern wird und ändern muss, um sein Vorhaben erfolgreich zu machen. Dies gelingt, weil er dem Vorhaben eine hohe Priorität zugewiesen hat.
  • Er analysiert den Status quo und definiert ein Ziel. Daraus leitet sich der Weg ab, den man gehen muss oder eventuelle Anpassungen des Ziels, wenn andere Wege gangbarer sind.
  • Bevor sich sichtbare Erfolge einstellen können, müssen erst neue Routinen etabliert werden. Man muss sich keine Gedanken um Muskelwachstum machen, wenn man es noch nicht mal schafft, regelmäßig Krafttraining zu machen. Man muss sich keine Gedanken über die Auswertung von Online-Kundendaten und den Einsatz von KI machen, wenn man noch überhaupt keine Routine hat in den Prozessen Verpackung,  Versand und Retoure.
  • Er überlegt sich genau, wieviel Ressourcen (Zeit, Energie, Geld) er in den Start investieren will UND kann.
  • Er wägt jeden ungefragten Kommentar und Tipp von Dritten genau ab, inwieweit das mit SEINEM Vorhaben vereinbar ist. (Das Angebot an „So geht’s besser“-Hinweisen kann einen erschlagen, verwirren und vom Weg abbringen.)
  • Das Bewusstsein, dass das alles ein Prozess ist, der niemals in Stein gemeißelt ist, sondern stetiger Veränderung, Anpassung, Optimierung unterliegt, ist immanent. Auch die Inneneinrichtung eines Ladenlokals bleibt nicht zwanzig Jahre dieselbe, genauso wenig wie die Laufstrecke mit der man angefangen hat, nicht die einzige bleibt in den nächsten Jahren.

Gegenüber stationären Händlern preisen wir unsere Händlerintegration auch als perfekten Einstieg in den E-Commerce an. Weil man keine Vorkenntnisse braucht, weil man kein Geld dafür investieren muss, weil man nach eigenen Kapazitäten und eigenem Ermessen neue Routinen etablieren kann und man noch nicht einmal ein Warenwirtschaftssystem braucht!

Dennoch heißt das nicht, dass wir für wirklich JEDEN Händler der einzig beste Einstieg in den E-Commerce sind. Für manche Händler fängt der E-Commerce vielleicht wirklich über einen Kanal wie Whatsapp an. Und welche Kanäle man nutzt, wenn man schon eine Weile E-Commerce- und/oder Versandhandel betreibt, das steht noch auf einem anderen Blatt. Wir ermutigen jeden Händler, vieles auszuprobieren und mit der Zeit zu entscheiden, was am besten zum eigenen Ziel und Selbstverständnis passt.

Ob es um Fitness geht, die Digitalisierung des Handels oder das Verschmelzen von online und stationär – entscheidend ist der erste und wichtigste Schritt. Dieser besteht darin, dass man den eigenen Narzissmus ablegt. Es spielt keine Rolle, wie es früher einmal war oder wie man beim Sport aussieht. Wichtig ist, jetzt zu tun, was man tun kann und im wahrsten Sinne des Wortes zu handeln – anzupacken und mit voller, innerer Überzeugung tätig zu werden.